Böse Poesie des Unsichtbaren

Parasiten-Wissenschaft als Comic-Thriller: Brigitta Falkners "Strategien der Wirtsfindung".

Brigitta Falkners "Strategien der Wirtsfindung" ist eine Augenweide. Das Buch zu lesen heißt zuallererst, darin zu blättern und sich daran zu weiden. Von einer Seite und Doppelseite zur nächsten überrascht die Autorin und Zeichnerin mit einem neuen Arrangement, einer neuen Choreografie von Text und Bild, von Fläche und Strich, von Schwarz und Weiß. Gelegentlich kommt Farbe dazu, gelegentlich verwandelt sich eine Seite in ein buntes Panorama. Der Augenschmaus lenkt auf ein Hauptmotiv des künstlerischen Traktats: die Schmausereien der Protagonisten. Das sind nämlich Parasiten: Milben, Flöhe, Läuse, Gelsen und Raupen springen, kreuchen und fleuchen durch Falkners Universum, und sie belieben vor allem, in Saus und Braus zu leben und zu schmausen: "Fressen ohne Ende", womöglich "auf sicherem Gelände". Was aber macht die Wiener Dichterin auf dem Gelände der Biologen und Naturwissenschafterinnen? Hier beginnt die angewandte Wirtsfindung: Interdisziplinär und parasitär bedient sich die Autorin der Wissenschaften, spielt mit Theorien der Biologie und Parasitologie und ihrem ungeahnten Potenzial an Poesie und Thrillogie. Denn untergründig kommen da gruslige, ja grauenerregende Seiten unseres Universums zum Vorschein. Man denke nur an das Bärtierchen, einen Vertreter der Tardigraden, und "daß wohl nichts fürchterlicheres gedacht werden könne, als wenn dieses Thierchen in der Größe eines eigentlichen Bärs erscheinen sollte", wie Falkner eine Abhandlung von Joh. August Ephraim Goeze aus dem Jahr 1773 zitiert. Es sind mit Vorliebe ältere wissenschaftliche oder auch vorwissenschaftliche Werke aus dem 18./19. Jahrhundert, die die Autorin haufenweise zitiert, gewissermaßen rezitiert, in neuer Rhythmik und Reimform paraphrasiert. Fein säuberlich angeführt stellt das Zitat ein zentrales Strategem Falkner’scher Selbstbewirtung dar, doch bei aller Wissenschaftlichkeit ist die Dichterin eines reinen Faktenzwangs freilich enthoben, "nicht der Wahrheit / der nackten (Horaz) / verpflichtet". Es sind die gewöhnlich unsichtbaren Zwischenwelten und Paralleluniversen in Versen, die Falkner interessieren: "Den Blicken verborgen, / im Boden der Farnwälder, / im Gedärm der Vögel / und Schnecken, / leben Würmer, Egel, / Maden, Nymphen". Und ihre allegorischen, realen, theatralen Spiegelungen in unserem parallelen Universum. In schwindelerregenden Reimkaskaden beschreibt die Wortkünstlerin und Buchstabenakrobatin, wie etwa ein Staubsaugerbeutel den Milben, "wie der Tümpel der Kröte, / der Karpfenteich dem Hecht / oder Italien einem Goethe" gleichsam "alles böte": "ein erfülltes Milbenleben" eben. Virtuos verbindet die Autorin parasitische Utopien der Wirtsfinder - aber nein, sie sind real - mit "Letzte-Runde-Dystopien" von Wirtshausbesuchern. Paradies und Hölle sind Fragen der Perspektive. Angesichts der mörderischen (A-)Moral so mancher Milbe ist mit Christian Dietrich Grabbe zu sprechen, sogar der Teufel "dem Gotte näher als die Milbe". Falkners wunderbar böse Poesie des realen Unsichtbaren trifft sich mit der menschlichen Faszination für Täuschung, Tarnung, Verführung und Verwirrung. Was "Strategien der Wirtsfindung" jedoch zu einem bibliophilen Gesamtkunstwerk aus Wissenschaft und Poesie macht, ist die durchgehende grafische Gestaltung bis ins kleinste Detail: Dabei kommen wesentliche Elemente einer Comic-ästhetik zum Einsatz. Nicht allein, dass die zwölf Teile die Form von Comic-Heften haben, auch die comicgemäße Panelchoreografie ist eines der wiederkehrenden Muster der Seiten- bzw. Doppelseiteneinteilung, auch wenn Falkner sich kaum an eine klassische Form hält und etwa auch keine Sprechblasen einsetzt. Während einzelne Panels in stilllebenartigen überlagerungen wie Leibniz’sche Monaden die Welt enthalten, erscheint diese Welt stets fragmentiert in unendlich variierenden Geflechten, Geweben und Netzhäuten. Frei und schmarotzerisch bedient sich die Zeichnerin des Comics, der selbst ein komplexes parasitäres Medium ist, um es dadurch allerdings ebenso auf einzigartige Weise zu sprengen und zu erweitern. Labyrinthisch und in Hypertextformat mäandern und wuchern Textteile abwechselnd mit vielschichtigen Bildkästchen oder graziösen Zeichnungen über die Doppelseiten. Und immer wieder aufs Neue gehen Text und Zeichnung eine überraschende Symbiose ein.
– Martin Reiterer, Wiener Zeitung (22/3/2018)