Die Technik des Anagrammierens ist in Sprachkünstlerkreisen sehr beliebt, groß die Anzahl an elaborierten Anagrammbänden großer Sprachexperimentierer wie Gerhard Jaschke, Michael Lentz, Petra Nachbaur etc. Das Anagramm macht aus dem «Fehler» einen «Helfer», das heißt, es werden die gegebenen Buchstaben umgestellt. So weit, so bekannt. Anagramm steht schicht im Untertitel des im Format ungewöhnlichen, im Inhalt außergewöhnlichen Buches «Bunte Tuben». Anagramm, nicht Anagramme. Denn es ist in der Tat eine Ausgangszeile, die das Buchstabenmaterial für den gesamten Text vorgibt und zwar folgende: «Schöner Witz.» – «Unbedeutend.» Wenn man das «ö» zum «OE» werden lässt, ergibt das 23 Lettern, 14 verschiedene, darunter fünf E, drei N, zwei U, zwei D, zwei T; Aufgenommen werden außerdem: einmalig Sonderzeichen, Zählzeichen wie «I, V, X, L» das «&» für «und», und daraus entspinnt Brigitta Falkner in einzigartiger Manier eine Geschichte von zwei Dozenten, drei Studenten, einer netten, scheuen Neuen und zwo bunten Tuben bzw. deren physischen und metaphysischen Verwicklungen. Diese Buchstaben wiederholen sich in 1.064 Zeilen, in immer neuen Kombinationen und Variationen, ergänzt durch Querverweise mit Zitaten oder Alternativanagrammen. Ja, das ist möglich und noch dazu sehr lesbar, ja mehr noch, höchst amüsant, gespickt mit Witz und Hintersinn. «Es reden zwo undichte Tuben … / bereden, wo nicht zu deuten …» Freilich wird viel geredet und vieles nicht ganz ausgesprochen in diesem Text, ganz wie in der alltäglichen Kommunikation eben, der Leser versteht dennoch und wird wohl
zwischendurch immer wieder überprüfen, nachzählen und die verblüffende Korrektheit des schier unendlich langen Anagramms feststellen: «Dozentenrübe wuchs: Ident?» Da fehlen also 12 Buchstaben des Alphabets, darunter das «A», das in der prozentualen
Buchstabenhäufigkeit in deutschen Texten mit 6,51% an sechster Stelle liegt (E 17,4%; N 9,78%; I 7,55%; S 7,27%; R 7% – vergleiche: «DU», Nr. 739), und sie gehen nicht ab. «Zwo U, drei N … nettes Buch-Ende …!» Nein, damit nicht genug. Auf der linken Seite begegnen einem in diesem sehr sorgfältig gestalteten Band zwölf mal zwei bunte Tuben. Selbstklebende Sammelbilder aus «Selbst ist der Mann», No. 14 (1964). Auch die sind ein Vergnügen und zwar haptisch und visuell, die Produktnamen sind ohnehin ein Genuss: «Bindulin – Dein Alleskleber», «Silbanplast – Deine Herdpflege». Ein Buch, das man gerne öfter zur Hand nimmt. «Rezensent, deutend: ‚I Wo! Buch.’» Ein Text, den man immer wieder lesen kann. «Recht unbedeutend. Zwo, eins – / ZERO! –
entschwunden: die Tube» Ein bedeutendes Anagramm in Zeiten von Anagrammgeneratoren, denn die Möglichkeiten ausspucken kann er, der Computer, die Geschichte aber muss man immer noch selbst erzählen, und das wird Brigitta Falkner in dieser Perfektion so schnell keiner nachmachen.
– Markus Köhle, The Gap 54 (2004)