Mit „Strategien der Wirtsfindung“ legt Brigitta Falkner, Austria’s most sophisticated girl der Bild- & Textproduktion, einen packenden Thriller aus dem Tierreich vor.
Eine Echse schiebt den Deckel einer Schachtel mit einem Puzzle beiseite, Dominosteine, Dartscheibe und Teddybär verweisen ebenfalls auf ein Kinderzimmer, bloß dass auf diesem Bild auch sehr viel zu sehen ist, was definitiv nicht dorthin gehört – eine Gasmaske zum Beispiel, vor allem aber jede Menge Flora und Fauna. Triebe, Wurzeln und Ranken verschlingen sich mit Stacheldraht, einem Kabel oder dem Tape aus einer Musikkassette, darüber kriechen oder hocken Amphibien und Insekten. Ein aus seiner Höhle getretenes menschliches Auge stammt vom Cover eines Zombie-Comics, aber was ist mit dem Ohr, das neben einer halbausgequetschten Tube liegt? Und warum sieht die Hose (mit geschlossenem Knopf!) so aus, als steckte noch ein unsichtbarer Körper in ihr? Die klassische Frage elterlicher Kinderzimmerkontrolle „Wie schaut’s denn hier aus?“ stellt sich auch dem Betrachter, nur dass sie nicht rhetorisch gemeint ist. Das hier ist definitiv kein Kinderzimmer (mehr), sondern ein Schauplatz oder Tatort – aufräumen impossible. Gezeichnet, geschrieben, gedichtet und arrangiert hat all das Brigitta Falkner, die mit „Strategien der Wirtsfindung“ ihre bislang aufwendigste Arbeit und auch ihr Opus magnum (etwas kleiner als DIN A4) vorlegt: 200 Seiten in Wort und Bild über die Welt der Parasiten und Schmarotzer, die sich keineswegs nur im floralen Dickicht, sondern auch in Polsterbefüllung und Teppichflor fortbewegen und -pflanzen. „Ein reines Gewissen / ist ein sanftes Ruhekissen, / das, mit Schuppen und Haaren bedeckt, / die Begierde der Milben weckt“, beginnt die gereimte Einführung ins Leben der Hausstaubmilbe, sodass es den vor Ekel zitternden Mysophobikern bei der Lektüre wie Schuppen von den Haaren fällt – was den Dermatophagoides erst recht den Tisch deckt: „Ein erfülltes Milbenleben. / Rückblende: Kissen. / Vier Wände. Ein Bett. / Kein Plot. Stattdessen: / Fressen ohne Ende / auf sicherem Gelände.“ Eine durchgängige Handlung gibt es in den „Strategien“ nicht, auch wenn die ästhetische Anmutung an eine Graphic Novel erinnert. Die einzelnen Teile („Strategien der Wirtsfindung #1–#12“) ähneln seriellen Comic-Heften, greifen allerdings nicht auf die klassische Strip-Form zurück, sondern reichen von ganzseitigen Illustrationen bis zu komplex kadrierten Arrangements von Bildern und Textblöcken auf einer Doppelseite. Die Layouts dafür hat Falkner vorher festgelegt, erst danach erfolgt die Befüllung mit Bild und Text, wobei die Rahmung auch Anzahl und Länge der Textzeilen determiniert. Einige dieser Skizzen sind derzeit in einer Ausstellung im Literaturhaus zu sehen, darunter auch ein Entwurf, in dem Größe und Anordnung der Bildausschnitte einer Fibonacci-Folge (1, 1, 2, 3, 5, 8 …) entspricht. Klarheit, Präzision und überprüfbarkeit zählen zu den obersten Maximen eines Schreibens, das in erfrischendem Kontrast zur wahlweise sich subjektivistisch oder politisch gerierenden Befindlichkeitsliteratur steht, die an der Tagesordnung ist. Der nicht unbeträchtliche Witz, der Falkners Text- und Bildproduktion auszeichnet, verdankt sich stets einem konzisen Konzept. Es ist kein Wunder, dass die Autorin mit Lipogrammen, Anagrammen oder Palindromen bekannt wurde, Textformen also, bei denen nicht geschummelt werden kann, weil diese auf strikten Regeln basieren. In „AU!“ entfaltet Falkner ein Dreiecksdrama zwischen Ruth, Karl und Paul, wobei sich der Vokalbestand auf die beiden im Titel genannten Buchstaben beschränkt: A und U. Das Storyboard „Prinzip i“, ebenfalls aus dem Band „Fabula Rasa“ (2001), beginnt mit der Geburt des Protagonisten in einer Linzer Klinik und verwendet einen einzigen Vokal: „Zittrig nimmt Ingrid ihr Kind. Ihr Fischblick wird innig: ,Willi.‘“ Elfriede Jelinek, ein bekennender Falkner-Fan, war von deren ebenso formstrengen wie verspielten Arbeiten so angetan, dass sie einige der zum Teil illustrierten Anagramme und Palindrome in ihren Band „Jelinkes Wahl. Literarische Verwandtschaften“ (1998) aufnahm. Eine der schönsten und hinterfotzigsten Arbeiten auf diesem Sektor hat Falkner als Postkarte und Plakat ganz im Stile der bekannten zweifarbigen katholischen Erbauuungsposter gestaltet und mit dem Slogan „Sei fies / tu erfreut“ ausgestattet – zwei Zeilen, die, wie’s bei Palindromen nun einmal so geht, von hinten nach vorne gelesen, denselben Satz ergeben. Eine noch wesentlich extensivere Spielart dieses Verfahrens stellt ein Dialog dar, zu dem die Autorin durch ein historisches Foto inspiriert wurde, das Spiegel-Gründer Rudolf Augstein und den Philosophen Martin Heidegger beim Spazierengehen zeigt. „Eine Gehung“ – der Titel ist integraler Bestandteil des Palindroms – besteht aus einem erratisch-philosophischen Frage-Antwort-Stakkato, in dem der Beginn „,…Nun? Nisch, Rudi?‘ ,Durchaus!‘ ,Eidos…‘ ,Nee: die Grosslage…‘ ,Wesen…‘ ,Ego…‘ ,Geschick…‘ (Echo)“ am Ende mit „,O check ichs?‘ ,Ego-Genese. Weg als Sorge.‘ ,Ideen & So?‘ ,Dies auch, Rudi. Durch-Sinnung. Nu?‘ ,He! Genie…‘“ gespiegelt wird. Falkners Arbeiten, die seit dem Debüt „Anagramme Bildtexte Comics“ (1992) sieben Einzelpublikationen umfassen, sind im Laufe der Zeit immer aufwendiger und anspruchsvoller geworden. Für „Populäre Panoramen I“ (2010) hat die Künstlerin erstmals zur Kamera gegriffen und Spielzeugfiguren in (Stadt-)Landschaften zu von einem eigenartigen melancholischen Licht durchdrungenen Ansichten arrangiert, die an die Collagen Ror Wolfs oder die Arbeiten des Schweizer Künstlerduos Fischli/Weiss denken lassen. Die „Panoramen“ markieren aber auch den scientific turn der Autorin, die hier eine empfindsame Zugreise aus wahrnehmungspsychologischer und neurophysiologischer Perspektive erzählt. Die systematisch und ganz ernsthaft erörterte Frage, welche Folgen es hätte, wenn sie – „wie der Typ in dem Film (…) ,The Incredible Shrinking Man‘“ – auf die Größe einer Stubenfliege schrumpfen würde, führt unter anderem zu der Einsicht, „dass ich, um die konstante Körpertemperatur aufrecht zu erhalten, fortwährend riesige Essensmengen in meine winzige Mundöffnung stopfen müsste, wobei schon ein paar am Körper haftende Tropfen, die ein Mehrfaches meines Eigengewichts ausmachen, infolge der Oberflächenspannung in Sekundenschnelle eine zähe, klebrige Schicht bilden und die zügige Nahrungsaufnahme unschön beenden würden.“ Von den „Populären Panoramen“ existiert auch eine 25-minütige Videofassung, welche die Autorin – im Stile eines Diavortrages – selbst geschnitten und eingesprochen hat. Die Arbeit an den „Strategien der Wirtsfindung“ begann überhaupt mit einem Film, den Falkner im Arbeits- und Schlafzimmer ihrer Wohnung in der Brigittenau, in dem neben Bett und Bibliothek Rechner, Drucker und Dichterin dann gerade noch Platz finden, aus den einzelnen, per Hand mit Stift am Tablet gezeichneten und am Schirm bearbeiteten Bildern montiert hat. Ein Storyboard, das Abfolge, Dauer, Kamerafahrten und diverse Blenden festlegt, ist ebenfalls in der erwähnten Ausstellung zu sehen. Neben dem 4:44 Minuten langen Video hat Falkner auch ein „Making of“ ins Netz gestellt, das, untermalt von leicht elbisch klingenden Glossalalie-Texten, ihre Methode offenlegt: Die Wimmelbilder des Buches sind durch Addition von fünf bis 15 Bildebenen entstanden. Da diesen Ansichten die Tiefenwirkung von Schatten und Farbperspektive abgeht, lassen sie sich räumlich nicht eindeutig lesen. Die Relationen und Dimensionen des Abgebildeten sind widersprüchlich, entsprechen nicht der Realerfahrung. Wer sie betrachtet, wird gleichsam automatisch auf jene detektivischen Ambitionen zurückgeworfen, die wohl jede und jeder aus der eigenen Kindheit kennt. über Privates spricht Brigitta Falkner als Künstlerin gar nicht, weil: „Was spielt das für eine Rolle?“; über ihre Arbeit nur zögerlich, weil: „nicht so wichtig … egal.“ Hinweise auf etwaige Vorbilder oder geschätzte Kollegen muss man ihr wie Würmer aus der Nase ziehen (siehe dazu: „Strategien der Wirtsfindung“, S. 72: „jemandem stückweise ein Geheimnis entlocken“). Immerhin, dass sie die ebenfalls extrem akribischen Arbeiten des US-Comiczeichners Chris Ware mag („Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“), erfährt man dann doch, und auch die Freude am Verstecken und Entdecken hat eine Referenz in Falkners Jugendzeit: „Die Abenteuer der ,schwarzen hand‘“ von Hans Jürgen Press, zuerst in der Kinderbeilage des Stern Magazin und 1965 erstmals als Buch erschienen, ermöglichen es den Lesern, die auf je einer Doppelseite in Text und detailreichen Illustrationen dargestellten Fälle selbst zu lösen. Täuschen und Tarnen in der Tierwelt ist denn auch das Generalthema von Falkners jüngster Arbeit. Eines der spektakulärsten Beispiele dafür findet sich in „#7“. Es handelt von nachtaktiven Schmetterlingen, die mit Eulenaugen an der Unterseite der Flügel einen auf Beutezug befindlichen Raubvogel simulieren und ihre „Ohren“ am Metathorax, also auf der Hinterbrust, tragen. Diese Tympanalorgane wiederum werden von Milben zur Ablage ihrer Eier genutzt, wobei diese Schmarotzer „stets nur eines der beiden Ohren (…) nutzen, als wisse das Weibchen der Myrmonyssus Phaelenodectes, daß ein der halben Hörkraft Beraubter den Milben doppelt so viel Schutz gewährt wie ein vollständig Ertaubter, der die Peilrufe der Fledermaus nicht hört“. Auf ebendiese Peilrufe der Fledermausfamilien Stummeldaumen, Lanzennasen und Trichterohren reagieren wiederum Hummelschwärmer und Flechtenbären, indem sie diese imitieren und dadurch ihre Verfolger akustisch in die Irre führen. „Der Trick: mit den Schuppen der Genitalkappen gegen die Abdomen scheuern, sprich: durch Reiben der Genitalien den Feind verwirren.“ Na wenn das kein Spionagethriller ist!
– Klaus Nüchtern, FALTER 14/2017