Panoramen, gemalte "Rundblicke", waren besonders im 19. Jahrhundert populär. Damals erfand man, als Bühnenbildinstallation, in England auch das sogenannte "Moving Panorama": Ein langer Leinwandstreifen mit aufgemalter Landschaft war um einen Zylinder gewickelt und mit seinem losen Ende an einem zweiten Zylinder auf der anderen Seite der Bühne befestigt; eine Maschinerie setzte die Zylinder in Bewegung, so dass sie sich drehten und die Leinwand/Landschaft vom ersten ab- und auf den zweiten aufgerollt wurde. Betrachtern schien es, als ziehe die gemalte Landschaft an ihnen vorüber. Oder, nach Erfindung der Eisenbahn, als säßen sie in einem Zug und führen daran vorbei. Das Panorama vermittelt – hier mithilfe von Kunst und Mechanik – die Illusion eines überblicks, wobei die Perspektive seiner Betrachter entscheidend mitwirkt. Von hier lassen sich Spuren zu Brigitta Falkners jüngstem Werk „Populäre Panoramen I" legen – die offensichtlichste markiert das Motiv der Eisenbahn. Als Autorin wie Künstlerin, u.a. Comiczeichnerin, bietet Brigitta Falkner auf einzigartige Weise ein zweifaches Vergnügen: zu lesen und zu schauen. Jede Doppelseite quasi ein Diptichon aus Text und Bild: Rechts läuft der Text in Passagen weiter und das entsprechende Bild findet sich links daneben – wobei jedoch weder der Text die Bilder nur beschreibt, noch die Bilder den Text allein illustrieren; nein, eher "erweitert" ein Genre das andere; die Bilder verschieben und "öffnen" den Horizont des Textes und vice versa. Davon ein wenig später. Zunächst zum Text. Dessen Geschehen ist schnell umrissen: Ein Zug fährt ab, hält an, fährt weiter, hält an. Ein darin sitzendes "Ich", über dessen Biografie man sonst nichts erfährt, beschreibt und reflektiert die Bahnfahrt, das heißt seine Mitfahrenden, den Blick aus dem Fenster (das vorüberziehende Landschaftspanorama) mitsamt wiederholt auftauchenden Gleisarbeitern oder alten Frauen, die in Bahnhofshallen auf Bänken sitzen. Der Ton ist lakonisch, präzise, nicht ohne trockenen Witz. So weit, so klar. So klar, so komplex: Denn hier, siehe Thema "Panorama", geht es auch ums Wahrnehmen, Erkennen und (Nicht)Verstehen. Das Erzähl-Ich beobachtet sensibel und genau, kleinste Details stechen ihm oder ihr ins Auge. Und naturgemäß passt, wenn man die Welt so minutiös betrachtet, nichts mehr so recht zusammen – "herangezoomt" widersprechen die einzelnen Wahrnehmungen bald dem Gesamteindruck einer banalen Bahnfahrt, hüpfen aus der gewohnten Kausalkette, sind vieldeutig, sperrig, ja, potentiell verstörend ... Da mag ein Zug von A nach B gleiten ohne Kurve, die Einheit von Ort und Zeit ideal gewahrt sein; das deutlicher inspizierte, im Blick vergrößerte Detail lässt sich nicht mehr in (s)ein "Ganzes" einpassen: "(...) und der Zug setzt sich langsam ruckelnd in Bewegung, indes es nun rechts und links in allen Farben zu blinken und aus dem Boden zu sprießen beginnt, tropisch anmutende Blüten einem ihre Staubgefäße und Stempel entgegenrecken, und man angesichts der penetrant knospenden Natur am Wegesrand die Augen zusammenkneifen und sich fragen muss, warum eigentlich ein Mangel an Zurückhaltung und Feingefühl als unverblümt bezeichnet werde (...)". Die konventionelle Vorspiegelung der Illusion eines stimmigen überblicks – eines "ordentlichen" Weltmodells – ist ja seit langem nur noch als Lüge oder Kraftakt der Ignoranz zu bewerkstelligen ... den man, zumindest im Gespräch mit seinen Mitmenschen, täglich von neuem unternimmt. Brigitta Falkner setzt ein "Ich" ins Abteil, das sich hiermit längst abgefunden hat und jede seiner Wahrnehmungen reflektiert, ohne zu werten; wahrscheinlich würde es sich selbst nicht anders im Spiegel betrachten – im Bewusstsein der eigenen Relativität, als sei es selbst sein eigenes Wahrnehmungsinstrument. Allerdings mit Kamerablick (geeignet für Hitchcock) bzw. entsprechendem (neutralem) Gehör. So bemerkt es u.a.: die quietschenden Geräusche der Abteiltür; die raschelnde Bluse der Mifahrerin; eine in einer "Pfütze neben einer Thermoskanne" ertrunkene Fliege; das Licht, das sich auf der Netzhaut des Mitfahrers spiegelt; den hinter einem Rauchwölkchen aufblitzenden Schneidezahn eines unheimlichen Mannes mit Schnurrbart im Gang, den Geruch von Maschinenöl ... Durch die Beobachtung der Körpersprache seiner Mitfahrer – eines Mann und einer Frau, Stichwort: Flirtverhalten – erinnert es sich an Platons Definition des Menschen als "Zweibeiner ohne Federn", ebenso aber (nicht ohne überdruss) an zwei Hunde, und fragt sich, warum man gemeinhin menschliches Verhalten bei Hunden "drollig" finde, hündisches Benehmen bei Menschen jedoch ablehne. Immer wieder bezieht sich dieses Erzähler- oder Erzählerinnen-Ich auch auf Vergleiche aus der Comicliteratur (z.B. Superman, Donald Duck), oder auf wissenschaftliche Erkenntnisse, z.B. aus der Biologie, Psychologie und Verhaltensforschung, die im Alltag angewendet komisch oder absurd wirken (Assoziation hier: Flauberts "Bouvard und Pecuchet") und zudem nutzlos sind; auch Wissenschaftler sind aufs Detail konzentriert, und Messinstrumente wie das Mikroskop gleichen superscharfen Wahrnehmungsorganen: "Ein Buch liegt aufgeschlagen auf dem Nebensitz, die Frau fängt meinen Blick auf. Fünfzehn Lidschläge pro Minute schaffen Vertrauen, fünf erwecken den Eindruck, man würde gaffen. Während ich die Sekunden bis zum nächsten Lidschlag zähle, ist die Frau wieder eingenickt." Einmal rieselt Sand aus dem ärmel des gegenübersitzenden Mannes, ein anderes Mal schrumpft eine Banane in seiner Hand; als ein kleines Mädchen ins Abteil blickt, entnimmt er seinem Rucksack einen Schokoriegel nach dem andern und häuft die Schokolade auf einen freien Sitzplatz, bis die starrende Kleine von jemandem zurückgezerrt wird. So münden die beschriebenen Situationen oft auch in surreal anmutenden Bildern, wodurch das unspektakuläre Ereignis einer Bahnfahrt einem luziden, hellwachen Traum gleicht, in dem alles symbolisch und beunruhigend scheint. übrigens mag es der Blickwinkel des kleinen Mädchens sein, der am ehesten mit dem des "Erzähl-Ichs" ineins fallen könnte; sie ist es, die im besten Sinn kindlich-offen beobachtet ohne zu entzaubern. Hierzu passt, dass der dem Text vorangehende "Vorspann" wie eine leichte Anspielung auf Kafkas "Verwandlung" wirkt: "Angenommen, ich würde allmählich schrumpfen, wie der Typ in dem Film, der bei einer Bootsfahrt in einen radioaktiven Nebel gerät, The incredible shrinking man, ..." – mit diesen Worten beginnt das Ich zu spekulieren, was wäre, wäre es plötzlich winzig wie eine Fliege. Mithilfe der Naturwissenschaften konkretisiert es seine Vorstellung, macht sie komplexer, verfremdet sie. Man erfährt etwa, wie genau Körper und Wahrnehmung sich veränderten. Oder dass man als fliegengestaltiger Warmblüter aufgrund der enormen Körperoberfläche den ganzen Tag essen müsste. Oder dass man in einem Frequenzbereich hörte, in dem keine menschliche Stimme verständlich wäre. Dass man einen anderen Teil der "Wirklichkeit" anders sähe ... Diese Relativierung und Verfremdung der "menschlichen" Perspektive im Gedankenexperiment ist jedenfalls eine adäquate Einstimmung auf das dann folgende hyper- und surreale literarische Reisepanorama, in dem es der Autorin Brigitta Falkner dann meisterhaft gelingt, Präzision und Irritation, Sachlichkeit und Witz in der Schwebe zu halten. Die Künstlerin Brigitta Falkner hat diesem Text kongeniale Bilder zur Seite gestellt: beglückend feine, surreale Landschafts-und-Spielzeug-Miniaturen. Hier sieht man immer wieder im Text vorkommende Motive (Bahn, Fliege, Banane und vieles mehr), und doch können die Miniaturen ganz für sich stehen. Gaston Bachelard bezeichnete Miniaturen einmal als – für Betrachter äußerst befriedigende – "Weltüberlegenheitsübungen": Eine Miniatur vermittelt nicht nur, wie das Panorama, die Illusion eines überblicks, sondern auch die der Souveränität. Es sei denn, man denke sich in sie, in eines ihrer Details hinein, dann werde sie "zum Fundort für Größe". Was, anders gesehen, wiederum dem Gefühl der "überlegenheit" im Wege steht; jeder, der etwas Großes betrachtet, sieht sich selbst verkleinert. Die Perspektive des Textes, der Blick aufs Detail bzw. das Detailwissen, findet sich hier bildlich umgesetzt – unter anderem im bewussten Missverhältnis der Proportionen. Einmal sieht man einen roten Zug auf Gleisen inmitten einer grünen Landschaft, Hügel im Hintergrund, und im Vordergrund eine Fliege, die auf zwei kleine Männer zukriecht, welche einen verhältnismäßig riesigen Bilderrahmen betrachten, worin eine verhältnismäßig riesige Banane liegt – auch die Fliege ist monströs, um ein Mehrfaches größer als die Männer. Dann kriecht eine Maus aus einem Tunnel, als sei sie eine dicke Lokomotive; in einem Feld mit wogenden Halmen tummeln sich Ameisen, größer als Kühe. Wenn auch viele der Blidszenen (mitunter sind drei episodisch zusammengestellt) wie von goldenem Abendlicht überflossen scheinen und sogar Superman antritt, um ein Gleis geradezubiegen – die Idylle, sollte man versucht sein, sie zu suchen, wird nachhaltig gestört, aufs Anregendendste. Indem sich große "Details", auch unheimliche wie Augäpfel, im kleinen "Ganzen" einnisten. Als gelänge es nie, zwischen "nah" und "fern" die passende Perspektive zu finden. Brigitta Falkner stellt wiederholt die Puppe eines kleinen Mädchens – großer Kopf, blaue Schleife im Blondhaar – in ihre Miniaturen. Es könnte das "Ich" des Textes sein, als Erzählerin in Gestalt eines gigantischen Kleinkinds (Baby-Gullivera: ein Fuß so lang wie ein Mann), das auf fahrende oder umgestürzte Züge blickt und sich selbst zu groß ist. Man sieht sie meistens von hinten oder der Seite – aber einmal ist sie frontal gezeigt, und hat keine Augen. Wie eine ironische Reminiszenz an das Motiv vom blinden Seher-Dichter, Stichwort: Homer, das sich in den Superhelden der Comicverfilmungen des 21. Jahrhunderts fortsetzt, sind die Augenhöhlen blendend-geblendet weiß. Als sei sie ein Medium, eine Hülle. Aber auch das ist nur ein Detail in einer vielschichtigen, intelligenten Arbeit, in der Brigitta Falkner mit klarem Blick und leichter, sicherer Hand wie nebenher das Thema der Relativität und des Fragmentarischen unserer Wahrnehmung vorführt. Und ihm mit Intelligenz und Witz im konzentrierten Spiel immer neue Facetten entlockt. Was wiederum uns zum Spiegel wird, aber das versteht sich ja wohl von selbst.
– Birgit Schwaner, Literaturhaus-Buchmagazin (11/2010)