Immer wieder lohnt es sich, auch auf ältere Gedichtbände, statt nur auf neue zu verweisen, vor allem, wenn sie entweder nicht genügend berücksichtigt wurden oder neue Aktualität erfahren. beides lässt sich von Brigitta Falkners ja erst drei Jahre altem, ziemlich einzigartigem Gedicht- und Graphikband „Strategien der Wirtsfindung“ sagen, der bei Matthes und Seitz erschien.
vielleicht war es dabei sogar etwas unglücklich, dass die berühmte Naturkundenreihe des Verlags so ausstrahlt, denn der ein- oder die andere dachte sich wohl das Buch zu dieser Reihe zugehörig, obwohl doch schon das Format und die Gedichtformen der Texte völlig aus dem Rahmen dieser fallen. auch die großartige graphische Gestaltung, über die Simone Kretschmer-Sauer auf literaturen.de schrieb: „Falkners Erkundung parasitären Lebens und die damit verbundenen Einblicke in seltsame bis erschütternde, erstaunliche und hochkomplexe Eigenarten von Tieren und Pflanzen, die sich von ihrem Wirt ernähren, ist ein Vergnügen fürs Auge.“ – und die von Brigitta Falkner parallel produzierten, auch ziemlich eindrucksvollen Videos zu dem Buch lenkten ein wenig davon ab, dass es sich nicht nur um gut recherchierte, sondern auch sehr gewitzte, formbewusste und von einer teils grotesken Ambivalenz gezeichnete Gedichte handelte. zwar erreichte das Buch immerhin eine Erwähnung in der SWR-Bestenliste und die spezialisierten Onlinemedien signaturen, fixpoetry und literaturkritik lieferten kurze Rezensionen ab, aber weder die deutsche Print-Presse rezensierte das Buch (in der Schweiz immerhin der tapfere Paul Jandl in der NZZ), noch erhielt sie einen bedeutenden Preis.
es ist auch verständlich, dass ein Buch nicht drei Jahre später zum Buch der Stunde avanciert. das Potential dazu hätte es aber, denn vom Wirtstier zum Virus, wie zu sehen sein wird, dürfte es lyrisch nicht allzu weit sein – zumal es ja auch den Viren um „Strategien der Wirtsfindung“ geht.
oftmals daktylisch vorangetrieben, um dann den durch belehrend-ironischen Gestus sich aufstauenden Pointeneffekt in einem knalltütigen Jambus männlich endend abzuschütteln, beweisen die Gedichte der Autorin, dass diese mit Formen mindestens ebenso stilsicher doppelbödig umgehen kann, wie wir es mitunter von Ann Cotten oder manufakturartig seriell von Ulf Stolterfoht kennen. darüber hinaus weiß sie die durchaus auch deprimierende message von der Allmacht der Milbe, indem sie ihr Dasein ironisch wegbürstet oder affirmativ aufplustert zur Tragikkomödie, unter der Hand, in scheinbar dahintrottenden Knittelversen und lapidaren Endreimen zur Abrechnung mit der Hybris des aufklärerischen Geists und seiner anthropozentristischen Selbstgewissheit auszubauen, ohne Wissenschaft oder Erkenntnisstreben selbst zu verraten.
mancher Vers bietet auf wunderbare Weise, trotz oder wegen seiner Eingebettetheit in ein eigenartiges „Wirtsgeschehen“ – was dann auch mal ein Wirtshausgeschehen sein kann:
zur vorgerückten Stunde
(die letzte Runde)
wird der sogenannte Gast
von diffusen ängsten erfasst
– die Möglichkeit, ihn als allgemeingültiges Weisheitsaperçu zu lesen:
Wären da nicht die Verwandten
als dem Glück abträgliche Konstanten.
Wie die Erfahrung uns lehrt,
ist die Erfahrung nichts wert.
die kleinen Parasiten, Viren und Milben werden von Falkner eigenartig anthropomorphisiert, aber in verschiedene real life-Szenarien versetzt, immer unter der Drohung der surrealen Umstülpung klassischer Hierachien und menschlicher Ordnungen – dabei ein bißchen wie von einem weißen Rauschen umgeben. in anderen Versen wiederum – deshalb auch „Buch der Stunde“ – zeigt sich die unfreiwillige Brisanz oder sagen wir besser verblüffende aktuelle Treffsicherheit solcher Lyrik:
Sterben im Kreis der Familie,
in der eigenen Immobilie,
im trauten Habitat –
wie es die drecksaffine,
mit Müll bedeckte Milbe tut,
verbietet das Gebot der Hygiene
Ein reines Gewissen
ist ein sanftes Ruhekissen,
(…)
Das reine Gewissen ist der Sachverstand.
zugleich aber widersetzt sich das Buch in seinen schönen Abwegen aber auch einem möglichen Gegenwartsbezugpostulat und deren Nötigungen. es ist vollgespickt nicht nur mit wunderbaren Zeichnungen, sondern auch mit Exzerpten aus wissenschaftlichen Büchern, historischen oder aktuellen und literarischen oder phraseologischen Zitaten, die aber, selbst wo sie beiläufig ausgespielt werden, mehr als spielerische Referenz sind: in ihrer grotesken Inadäquatheit lässt sich noch eher erahnen, als in mancher behutsamen Annäherung, dass sich hier etwas womöglich der menschlichen schnellen Einordnung entzieht. wohin eine Vermenschlichung der Kleinstlebewesen führt, zeigt zum Beispiel diese Stelle:
der Erhalt des Erbguts
bereits diesseits der Schicht
im Sekundentakt
sichergestellt,
indem der einzige Sohn
in der Leiche der Mutter
deren Töchter fickt.
so fragt Paul Jandl zurecht skeptisch, aber auch natürlich rhetorisch: „Will man es denn wissen? Wie es zugeht in den Wäldern des Teppichflors, wo die Milbe im Mikromüll wühlt?“. ja, man muss es wissen: die Wesen, die unsere ganze Welt überziehen und sich den Menschen, ähnlich wie momentan besonders signifikant die Viren, auf unsichtbare Weise untertan machen, können eben nicht mit menschlichen Mitteln gefasst werden (eingegrenzt, eingefasst, gestellt), oder nicht so einfach, das macht jeder dieser wanzenknackigen, oft munter reimenden Verse klar, aber sehr vergnüglich. und auch nicht mit den Mitteln der Poesie.
Mit der Präzision
von Metronomen
schlagen die Abdomen
der flügellosen Flechtlinge
gegen die feuchtklammen
Tausendseitenbände
und Blumenwiesen
der Tapetenwände.
da hilft keine Poesie, wenn es ans Existentielle geht:
Indessen bewirken
die ersten Proteste
verdurstender Gäste
noch keine Wende.
das Ganze ist zu guter Letzt auch noch mit wissenschaftlichen Anmerkungen versehen, man darf befürchten, dass es sich hier um non-fiction handelt, zumindest auf der basalen Ebene der zugrunde liegenden Vorgänge. Es handelt sich, genauer, um
extrem resistente Exemplare
von plumper Gestalt,
je nach Darminhalt und Hintergrund:
gelb, grün, braun, purpurrot,
mitunter bunt schimmernd
oder temporär tot –
als graue Klumpen schlummernd.
das muss man nicht als Metapher lesen, das wäre eben zu „plump“, aber es weist doch weit über die Welt der Wirtstiere hinaus, oder besser: weist darauf hin, wie weit diese selbst über sich hinausweisen.
– Hendrik Jackson, Lyrikkritik (2020)