Auf der Shortlist zum österreichischen Buchpreis, der am 7. November verliehen wird: Brigitta Falkners "Strategien der Wirtsfindung" feiert Schauer und Poesie des Parasitären in Wort und Bild
Im schlimmsten Fall kann einem das Grausen kommen. In einem nicht minder erschreckenden, aber zumindest fruchtbareren packt einen der Putzfimmel. Denn da marschiert nämlich etwa durch einen Wald aus Haaren und ausgerüstet mit bedrohlich scharf aussehenden Bein- und Kieferwerkzeugen ein Heer aus Milben auf einen zu. Wann hat man zum letzten Mal den Teppich shampooniert? Oder gesaugt? Man tut den Spinnentierchen, so die nachfolgende Lektion, damit nicht einmal etwas Schlechtes: "Das Leben im Beutel gleicht / einem nie endenden Festmahl, / dem Gott der Milben geweiht. / Der Beutel als heiliger Gral / und Tempel der Gastlichkeit / seinen Besuchern alles böte / wie der Tümpel der Kröte / oder Italien einem Goethe". Man möchte Brigitta Falkners neues Buch zum einen am liebsten sicher zugeschlagen wissen – nicht dass etwas herauskriecht. Und man möchte es andererseits immer aufgeschlagen lassen, weil es so schön ist. Der Grenzübertritt ist sein Thema auf allen Ebenen. So wähnt man sich beim Lesen seiner Einträge im einen Moment in einem Biologiebuch, im nächsten wieder in Literatur. Auch die durchgängige Bebilderung hat die Autorin und in Personalunion bildende Künstlerin selbst besorgt. Und schließlich steckt der Grenzübertritt als Thema der 200 Seiten, zu denen sich hie und da ein sehr dickes Lexikon oder Google als Begleitlektüre ans Herz legen lassen, in seiner übergriffigsten Variante schon im Titel: Strategien der Wirtsfindung. Es geht, wie er verrät, um das eine, das zum andern kommt, um zu bleiben. Und das, zum Leid jenes anderen, weder friedlich noch auf Einladung. Parasiten und Schmarotzer haben es der 58-jährigen Wienerin diesmal angetan. "Das Grauen hat einen Namen", schreibt sie einmal. Tatsächlich hat es viele. Drunter komplizierte lateinische und geradezu niedliche deutsche. Hat man alles und noch mehr über Milben erfahren, als man je wollte, kann man etwa die Bärtierchen oder Tardigraden entdecken. "Stummelbeinchen mit Bärentatzen" haben sie bei Falkner. Kryptobiose heißt fachmännisch der Zustand extrem reduzierten Stoffwechsels, in dem sie bei Trockenheit lange und starr überdauern können, um dereinst, von Wasser benetzt, wieder weiterzutapsen. Wie auferstanden. Und man erfährt von der im östlichen Pazifik heimischen Assel Cymothoa exigua, die als Larve Fischen in die Mundhöhle schwimmt, sich an deren Zungengrund festhakt, die Arterie dort anzapft, so die Fischzunge verdorren lässt und dann selbst deren Funktion übernimmt. Erkennbar bleibt das fremde Tier im Tier an den Augen, die fortan aus dem Maul des Wirtes starren. Zur Graphic Novel fehlt Strategien der Wirtsfindung einzig das "Vorwärts" einer Handlung. Genug Spannung wäre vorhanden. Ergriffen von der Schönheit der Natur, das sollen andere sein. Falkner ist fasziniert von ihrem Erfindungsreichtum. Und beansprucht solchen auch für sich: Gewebe und Geflechte, Haushaltskram, Blätter, Makroaufnahmen von Tieren überziehen die Seiten. Die Texte werden in Textfeldern zwischen diese Illustrationen geschoben. Deren Paneele halten sich ebenso wenig an bestimmte Größen oder Anordnungen wie die Texte an Gattungen. Mal schiebt Falkner Zitate von Johann Wolfgang Goethe oder Alexander von Humboldt ein, mal Fußnoten. Ob Gustav Theodor Fechner das gefallen hätte? In seiner Vorschule der ästhetik von 1876 vergleicht er Textbänder, die auf Kunstwerken Dargestellten wie Sprechblasen aus dem Mund hängen, mit "Bandwürmern". Sie verursachen ihm "Bauchgrimmen", weil "sie in der Tat fremdartige Parasiten in dem Bilde sind". Neben der Naturkunde liegt derart auch manch Kultur- und Geistesgeschichte auf Falkners Weg. Kommen wir auf diesem, ohne noch bei der fleischfressenden Rafflesia arnoldini in Südostasien gewesen zu sein, noch einmal zu den Milben. "Das höher komplexe Tier", stellt die Autorin fest und muss damit uns meinen, "wird den Nutzen / der Milben für die Literatur / allenthalben gering schätzen." Zumindest insofern hat sie sich geirrt, als Brigitta Falkner auf der Frankfurter Buchmesse vor drei Wochen für ebenjenen Band den Hotlist-Preis gewonnen hat. Ob sie auch der österreichische Buchpreis eines Besseren belehren wird, wird sich am Dienstag weisen.
– Michael Wurmitzer, DER STANDARD (4/11/2017)